Der Kult um die japanische Nudel: Auf der Suche nach der besten Schüssel Ramen

2022-08-21 07:17:30 By : Ms. Carol Liu

«Ab hier noch 45 Minuten», informiert ein blauer Aufdruck auf dem Boden. Fünfundvierzig Minuten anstehen, bis man im Ramen-Lokal Rokurinsha im Bahnhof Tokyo Station einen Platz bekommt. In Tokio kein Einzelfall: Es ist üblich, für eine gute Weizennudelsuppe, die es in unzähligen Varianten mit verschiedenen Toppings gibt, auch einmal eine Stunde Schlange zu stehen. Touristen folgen den aktuellen Bewertungen diverser Guides – es gibt auch Ramen-Restaurants mit Michelin-Stern – ebenso wie die Japaner, die ihre Mittagspause oft hauptsächlich in einer Warteschlange verbringen. Den Tratsch mit Kollegen erledigt man tunlichst im Stehen. Denn hat man erst einmal eine dampfende Schüssel vor sich stehen, heisst es schweigen. Und zügig essen.

«Es gibt, untypisch für japanisches Essen, bei Ramen wenige Regeln. Die einzig wichtige ist: Iss und geh», schärft auch Brian MacDuckston den Teilnehmern seiner «Ramen Adventures» ein. Er muss es wissen: Seit einem Jahrzehnt schon bloggt MacDuckston – übrigens kein Schotte, sondern ein in Tokio lebender Amerikaner – über Ramen. Also über Brühen, Nudeln («Ramen» bezeichnet eigentlich die Nudeln selbst) und Toppings. Er bereist ganz Japan auf der Suche nach neuen Lokalen, erstellt Best-of-Listen, bietet in Tokio geführte Touren an und schreibt Bücher.

Vor elf Jahren kam der damalige Programmierer von San Francisco nach Tokio, um hier als Sprachlehrer zu arbeiten. Gleich bei seiner ersten Schüssel wurde er mit dem Ramen-Fieber angesteckt. «Damals gab es aber zum Thema Ramen auf Englisch so gut wie nichts zu lesen. Es herrschte auch noch kein weltweiter Hype, in New York gab es gerade einmal ein paar Adressen.» MacDuckston begann zu recherchieren, behalf sich anfangs mühsam mit japanischen Ramen-Magazinen und startete seinen Blog. Er ist es, der Japans Ramen-Kultur auf Englisch zugänglich gemacht hat.

«Ich bin besessen von Ramen», sagt der 39-Jährige, «und ich bin nicht der Einzige. Der inoffizielle Ramen-Champion isst mehr als 2000 Schüsseln pro Jahr und postet natürlich jede einzelne auf Instagram.» Brian MacDuckston isst zumindest einen Ramen täglich; auf seinen Abenteuer-Touren sind es mehr. Seine «Ramen Adventures» werden nicht nur von Touristen gebucht, sondern von immer mehr Köchen aus Europa und den USA, die in ihrer Heimat eigene Betriebe eröffnen wollen und sich vorab in die Geheimnisse dieser Kultur einweihen lassen wollen.

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Die Ramen-Kultur ist erstaunlich jung und stammt ursprünglich aus China. Manche Quellen nennen das 19. Jahrhundert für die Phase des Überschwappens auf Japan, ­MacDuckston indes will recherchiert haben, dass der Zweite Weltkrieg der eigentliche Auslöser für Japans Liebe zum Ramen war: «Die Amerikaner haben Japan nach dem Krieg mit Mehl unterstützt. Die Japaner konnten aber kein Brot backen, weil ihnen die Öfen fehlten, also begannen sie mit den Weizennudeln.» Die elastischen Nudeln sind jedenfalls eine chinesische Tradition. «In China sind die Nudelbrühen oft simpel, eher warmes Salzwasser, um die Nudeln warm zu halten», sagt Brian MacDuckston. In Japan habe man dann aus der Brühe eine Tugend gemacht und begonnen, damit zu experimentieren. Heute übertreffen sich Köche mit immer neuen, immer dichteren und ungewöhnlicher gewürzten Brühen, ob auf Schweine-, Hühner-, Trockenfisch- oder Miso-Basis – oder auch allem zusammen.

Wie viele Ramen-Lokale es in Tokio gibt, ist selbst für einen Experten wie Brian MacDuckston schwer zu sagen. «Viele Listen nennen auch China-Restaurants, die nebenbei eben auch Ramen anbieten.» Er selbst schätzt rund 7000 Lokale allein in Central Tokyo. Viele befinden sich in Seitengassen oder in grossen U-Bahn-Stationen. Jene, die gute Bewertungen haben (oder auch nur dank einem berühmten Stammgast bekannt sind), sind unschwer an der Warteschlange zu erkennen. Absperrbänder und manchmal auch Aufsichtspersonen sorgen für Ordnung.

Die meisten Restaurants haben weniger als 15 Sitzplätze, oft entlang eines Tresens. Die Fluktuation ist hoch, was so sein muss, damit Ramen weiterhin ein günstiges Vergnügen bleiben kann. Es gibt Köche, die Gäste anbrüllen, dass sie jetzt endlich fertig essen und gehen sollen; fast immer sind es Touristen. In Japan verbringt man im Durchschnitt 15 Minuten in einem Ramen-Lokal. Die Kalkulation allein ist aber nicht der einzige Grund, warum man Ramen rasch essen sollte: Die Nudeln weichen auf, je länger sie in der heissen Brühe liegen. MacDuckston: «Acht Minuten bleiben sie fit, da sind wir Ramen-Nerds uns einig.»

Für seine Touren sucht MacDuckston unter der Vielzahl der empfehlenswerten Tokioter Lokale stets zwei aus, die gut erreichbar sind und möglichst unterschiedliche Ramen anbieten. «Zuerst essen wir immer eine leichtere Brühe, etwa auf Muschel-Basis, als Zweites folgt ein ärgerer Ramen mit mehr Fett.» Solche gebe es etwa im unscheinbaren «Kikanbo» im Bezirk Kanda, wo rote Teufelsfratzen von der Wand grinsen und alle Brühen Szechuanpfeffer enthalten, der die Zunge betäubt.

Die Bestellung wickelt man meistens schon vor dem Betreten der Gaststätte ab. Die benötigten Bons bezieht man mit Bargeld an eigens dafür eingerichteten Automaten – die auf die Durchschnittsgrösse von Japanern ausgerichtet sind. Für den grossgewachsenen Ramen-Guide MacDuckston bedeutet das: bücken. Manche Ramen-Shops halten Einweg-Lätze aus Papier bereit, die vor Suppenspritzern schützen sollen. MacDuckston macht das Umbinden dieser Lätze ebenso vor wie das richtige Essen – auch wenn er immer wieder betont, dass es kaum Regeln gebe. Schlürfen zum Beispiel sei erlaubt: «Es geht ja auch nicht anders, wenn man das heisse Zeug schnell essen soll.» Dass das Abbeissen der Nudeln an Frevel grenze, sei eine Mär. «Schaut euch um, alle beissen ihre Nudeln ab. Wer das vermeiden will, darf einfach nicht zu viele davon gleichzeitig in den Mund nehmen.»

Die Nudeln fährt man mit den Stäbchen wie in einem Lift zum Mund und saugt sie ein. Wann und wie man Stäbchen mit Suppenlöffel abwechselt, in welcher Reihenfolge man Brühe, Weizennudeln, Schweinebauchscheiben oder das Ei namens Ajitsuke Tamago isst, bleibt jedem selbst überlassen, beruhigt der Kenner, auch wenn viele Anleitungen etwas anderes sagen mögen: «Als Kompliment an den Küchenchef gilt jedenfalls, wenn man die Brühe am Schluss austrinkt.» Was das weichgekochte, marinierte Ei betrifft, ist MacDuckston immer wieder überrascht: «Ausländer sind von diesem Ei besessen. In Tokio denkt man darüber gar nicht nach. Hier bekommt man in jedem Ramen-Lokal ein ideales Ei. Ich wurde auch schon gefragt, ob ich nicht auf meinem Blog ein Eier-Ranking machen möchte. Aber das kann ich nicht, es ist einfach überall perfekt.» Auch zur Eier-Kochzeit liefert der akribische Ramen-Dokumentar exakte Zahlen: «Sechs Minuten fünfzehn Sekunden.»

Es gibt wohl nur eine Frage, die Brian MacDuckston nicht ganz genau beantworten kann – oder nur auf unerwartete Weise: die nach seinem liebsten Ramen-Lokal. «Mein liebstes Ramen-Lokal ist immer das, wo ich morgen hingehen werde.»

Weichgekochtes und danach mariniertes Ei, meist halbiert.

Getrockneter und geräucherter Thunfisch, in hauchdünne Scheiben geschnitten, geben Brühen Geschmack.

Marinierter Schweinsbraten, in Scheiben geschnitten – eines der häufigsten Toppings.

Brühe auf Basis von Kombu-Algen und Bonito-Flocken. Hühnerfüsse Ihr Kollagen ist wichtig für die Viskosität von Brühen.

Kalium- und Natriumcarbonat-haltiges Wasser, das Ramen-Nudeln Farbe und Elastizität verleiht.

Ein beliebtes Topping aus Bambussprossen.

Ramen auf Basis von Huhn und Miso. Vor allem im Norden, auf Hokkaido, beliebt.

Seetangblätter, wie man sie auch von Sushi kennt, in Streifen geschnitten als Ramen-Topping.

Dem Namen nach mit Salz gewürzt, oft auf Trockenfisch und Meeresfrüchten basierende Brühe..

Brühe, die hauptsächlich mit Sojasauce gewürzt wird – typisch für Tokio.

Die Würze, die Geschmacksbasis eines Ramen, etwa Shoyu-Tare. Wird mit einem kleinen Schöpfer direkt in die Schüssel gegossen.

Üppige, cremige Brühe auf ­Schweineknochenbasis – eine Tradition der Insel Kyushu im Süden.

Oft werden für die Ramen-Nudeln ­verschiedene Weizenmehltypen gemischt. Nudelmehl ist in Japan bis zu zehnmal feiner gemahlen als Brotmehl.

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